Immer ein bisschen revolutionär | Thalia

(Anzeige / Weiterleitung bei Klick zum Shop)
zum Anbieter: Immer ein bisschen revolutionär | Thalia
19,80*
versandkostenfrei ab EUR 20,00* Bestellungen mit mind. 1 Buch (nicht Ebook) sind versandkostenfrei, gefunden bei Thalia
 

Meine Großmutter Olga Hempel (geb. Fajans, 1869–1954) - allgemein Frau Doktor genannt - war klein, rundlich und trug schwarz. Von der Seite sah sie wie ein großes B aus. Ihr silbernes Haar war in einen kleinen Dutt oben auf ihrem Kopf zusammengerafft. Sie hatte große, intelligente grau-blaue Augen, die mich aufmerksam über ihre Brille anschauten. Sie stand auf dem kleinen Hügel und schwang ihren Regenschirm im Kreis über die grüne Landschaft und sang in einer tiefen, warmen Stimme: O Täler weit, o Höhen Du schöner, grüner Wald Du meiner Lust und Wehen Andächt'ger Aufenthalt. Später machte sie mich auf eine Lerche aufmerksam, die singend im Kreise aufwärts flog. 'Wenn du dich dreimal umdrehst', sagte sie, 'wirst du sie nicht mehr sehen können - nur hören, so weit fliegt sie hinauf!' Ich drehte mich gehorsam um, und siehe da: Sie hatte recht! Es war mir klar, dass meine Großmutter allwissend war. Sie hatte ihre Riten. Jeden Abend mussten wir Stuhl, Tischchen, Decke, Bücher, Schreibsachen und Lesebrille an eine freie Stelle an der Hecke hinter dem Häuschen tragen. Da ließ sie sich dann nieder, um den Sonnenuntergang zu sehen, - falls es langweilig wurde, konnte sie lesen oder Briefe schreiben. Sie hatte immer etwas zu schreiben. Das war wohl im Jahre 1938 in Dänemark, als ich etwa fünf Jahre alt war. Wir waren wegen Hitler schon 1936 aus Deutschland ausgewandert. Davor hatten wir – meine Mutter, meine älteren Geschwister und ich - bei Großmutter Olga in Güntersthal bei Freiburg gewohnt. Dort bin ich geboren; Oma spielte in den ersten drei Jahren meines Lebens eine ebenso große Rolle wie meine Mutter. Mein Vater war abwesend. Nach dem Besuch bei uns in Dänemark fuhr sie nach Persien. Wir gelangten 1939 nach England, und während des Krieges bekamen wir Briefe und Pakete von Oma Olga. Erst nach dem Krieg sah ich sie wieder: Sie besuchte uns auf ihrer Reise nach Amerika. Danach sah ich sie nie wieder. Aber dank ihrer vielen Briefe (ich habe einen Schuhkarton voller Briefe, auch solche, die sie in den 1920er Jahren an meine Mutter schrieb) und der drei schwarzen Hefte, in denen sie ihre Lebenserinnerungen aufschrieb (und auch dank der Erzählungen meiner Mutter) kenne ich sie, ihr Leben, ihre Umgebung, ihre Anschauungen und ihre ganze Persönlichkeit sehr gut. Sie hatte einen erstaunlichen Mut. Sie setzte sich durch; sie studierte Medizin, als das für Frauen noch nicht normal war; sie führte erfolgreich chirurgische Operationen durch, und zwar ohne Assistenz und mit minimalen Hilfsmitteln; sie verließ ihren Mann, als sein Verhalten unerträglich wurde. Auch die Nazis konnten sie nicht kleinkriegen, trotz ihrer jüdischen Abstammung: Sie hatte gar nicht vor auszuwandern, als sie ihre ältere Tochter (meine Tante) in Persien besuchte. Aber sie verbrachte dann doch die Kriegsjahre dort und ihre letzten Jahre in USA. Deutschland hat sie nie wieder besucht. Sie war sprachgewandt und witzig, respektlos, ja kritisch gegen jegliche Obrigkeit, ungeduldig bei allem Zweitrangigem ('Da bekam ich wieder die Ungeduld in den Kniekehlen', sagte sie nach einem minderwertigen Konzert). Sie hatte keine Religion – dafür aber eine fast mystische Liebe zur Natur, zu Pflanzen und Blumen, zur (guten!) Musik und zur Literatur. Sie war eine Romantikerin mit einer scharfen Zunge. Ihre Kindheit und Jugend in Danzig, ihre geliebten Eltern und Großeltern, ihre tiefe Jugendliebe, ihre Erlebnisse – alles das ist für mich jetzt, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod, so lebendig wie meine eigenen Zeitgenossen. Jetzt sollen auch Sie - liebe Leserin, lieber Leser - sie kennenlernen. Meine Großmutter begann schon im November 1943 in Persien, ihre Lebenserinnerungen in drei schwarzen Heften niederzuschreiben. In allen Dingen immer nur ihrer Vernunft folgend, benutzte sie ihre eigene Orthographie, z. B. kein ß, viele Abkürzungen, Zahlen nie in Buchstaben, keine Paragraphen, keine Ränder – das wäre doch Papierverschwendung! Ihre Briefe sind ähnlich vollgeschrieben. Bei Kriegsende hat sie die Arbeit an ihren Erinnerungen dann liegen lassen und nahm sie erst in Kalifornien wieder auf. Dort hat sie diesen Anfang verfaßt sowie die Schilderung ihrer Großeltern und Eltern. Irene Gabriele Gill, Oxford, im Juli 2005

bei Thalia ansehen (Anzeige)  

EAN: 9783866280250

Der Artikel hat 0 Kommentar(e).
Sie können hier einen eigenen Kommentar verfassen.

Weitere Artikel bei Thalia in Kategorie Geschichtswissenschaft


* Für den angezeigten Preis wird keine Gewähr übernommen. Bitte besuchen Sie den Partnershop, um sich über den aktuellen Preis zu informieren. Bei Arzneimitteln lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie den Arzt oder Apotheker.